BVerfG: Rasterfahndung nur bei konkreter Gefahr für hochrangige Rechtsgüter zulässig
Stand: 23.05.2006
Der Fall
Nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001 wurde bundesweit eine Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen durchgeführt.
Bei der Suche nach "Schläfern" wurden Daten bei einer Reihe öffentlicher Stellen, insbesondere auch bei Hochschulen erhoben. Die Daten wurden anschließend mit weiteren Datenbeständen beim Bundeskriminalamt abgeglichen.
Am Rande bemerkt: Nicht ein einziger "Schläfer" wurde dabei gefunden.
Beispielsweise wurde bei den Hochschulen in Nordrhein-Westfalen von Personen, die die sogleich ausgeführten Kriterien erfüllten, auf Beschluss des Amtsgerichts Düsseldorf folgende Daten erhoben:
herauszugebende Daten: Name; Geburtsname; Vorname; Geburtsdatum; Geburtsort; Geburtsland; Staatsangehörigkeit; Wohnort; Straße; Hausnr.; evtl. 2. Wohnsitz; Religion; Studienfachrichtung; Datum der Immatrikulation, Datum der Exmatrikulation.
Gestützt wurde der angegriffene Beschluss des Amtsgerichts Düsseldorf auf § 31 Abs. 1 des Polizeigesetzes NRW in der Fassung vom 24.02.1990, der folgenden Wortlaut hatte:
Mittlerweile ist § 31 Abs. 1 PolG NRW geändert worden, der Gesetzgeber verzichtet auf das Merkmal der "Gegenwärtigkeit" der Gefahr:
Von den 61 Hochschulen und vergleichbaren Einrichtungen in Nordrhein-Westfalen wurden in der Folge 474.517 Datensätze erhoben.
Dagegen wandte sich ein marokkanischer Staatsangehöriger islamischen Glaubens, der zum Zeitpunkt der Anordnung der Rasterfahndung Student der Universität Duisburg war. Schließlich machte er vor dem Bundesverfassungsgericht eine Verletzung seines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung geltend und führte aus, dass § 31 Abs. 1 PolG NRW nicht eingreife, da von einer "gegenwärtigen Gefahr" keine Rede sein könne.
Die Entscheidung
Intensiv setzt sich das BVerfG über mehrere Seiten damit auseinander, dass die Rasterfahndung einen gravierenden Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt.
Begründet wird dies insbesondere mit den Folgen, die eine solche Rasterfahndung nach sich zieht - denn sie birgt für den Betroffenen ein erhöhtes Risiko, Ziel weiterer behördlicher Ermittlungsmaßnahmen zu werden. Außerdem kann eine Rasterfahndung, wenn die Kriterien bekannt werden, zu einer Stigmatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen führen.
Ganz wesentlich ist auch, dass völlig unverdächtige Personen ins Fadenkreuz der Ermittler gelangen, da die Streubreite der polizeilichen Maßnahme nicht begrenzt ist auf Personen, die eine Nähe zur Gefahr oder zur verdächtigen Person aufweisen.
Aufgrund dieses gravierenden Grundrechtseingriffs ist die Rasterfahndung nur dann angemessen, wenn der Gesetzgeber den Grundrechtseingriff erst von der Schwelle einer hinreichend konkreten Gefahr für hochrangige Rechtsgüter vorsieht.
Das BVerfG sagt ganz klar: "Im Vorfeld einer konkreten Gefahr scheidet eine Rasterfahndung aus" (Pressemitteilung vom 23.05.06).
Im konkreten Fall kommt das BVerfG zu dem Ergebnis, dass die Rechtsgrundlage des § 31 Abs. 1 PolG NRW in der Fassung von 1990 verfassungsgemäß ist, insbesondere da es die Schwelle der "gegenwärtigen Gefahr" (das BVerfG führt aus, dass bereits die Schwelle "konkrete" Gefahr verfassungsrechtlich ausreichend wäre) vorsieht.
Allerdings ist die Gefährdungslage im vorliegend zu entscheidenden Fall zu diffus gewesen, um von einer "konkreten" Gefahr auszugehen.
Damit ist der betroffene Student in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt worden.
Das Fazit
Es ist erfreulich, dass in Zeiten, in denen das Stichwort "Terrorismusbekämpfung" leider oft genug zum Totschlagargument gegenüber Datenschützern benutzt wird, in denen man sich nicht des Eindrucks erwehren kann, dass die Unschuldsvermutung gegenüber dem Bürgern geopfert wird (Vorratsdatenspeicherung!), das höchste deutsche Gericht einen kühlen Kopf bewahrt.
Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erfährt durch diesen Beschluss eine deutliche Stärkung.
Zugleich - und das geht weit über den entschiedenen Einzelfall hinaus - wird der Gesetzgeber geradezu "abgewatscht".
Das BVerfG hätte sich längst nicht so intensiv mit der Thematik beschäftigen müssen, hätte es nicht folgendes Vorgehen der Gesetzgeber im Blick gehabt:
So wie NRW das Polizeigesetz (nach der in dieser Entscheidung angegriffenen Anordnung) geändert hatte und auf das Vorliegen einer "gegenwärtigen Gefahr" verzichtet hatte, hat eine ganze Reihe von Landesgesetzgebern die Ermächtigung zur Rasterfahndung zu polizeilichen Vorfeldbefugnissen umgestaltet.
Schon wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass zur Verhütung bestimmter Straftaten von erheblicher Bedeutung die Rasterfahndung erforderlich ist, kann diese durchgeführt werden (Baden-Württemberg (§ 40 PolG), Bayern (Art. 44 BayPAG), Hamburg (§ 23 PolDVG HA), Hessen (§ 26 HSOG), Rheinland Pfalz (§ 38 POG), Sachsen-Anhalt (§ 31 LSA), Thüringen (§ 44 PAG).)
Eine ganze Reihe von Bundesländern sollte sich nach diesem Beschluss des BVerfG in Klausur begeben und die Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen für ihre polizeiliche Vorfeldermittlung überprüfen.